Normalgroß

Es war ein prächtiger Sommernachmittag, als er, sehr groß gewachsen – ja eher schon übergroß im Vergleich zu normalgroß, in die Straßenbahn gestiegen ist, um seiner Liebsten einen blumigen Überraschungsbesuch zu erstatten. Er hatte natürlich im Vorfeld einen schönen großen Blumenstrauß besorgt, welcher einen enorm erfrischenden Eindruck in dieser höllischen Hitze mit der prallen Sonne, wo alles verdorrt, was nicht gegossen wird, vermittelt. Die saftgrünen Stengel, sowie die knallroten und grellgelben sowie blauen Blüten stachen natürlich aus dem ziemlich beige wirkenden Umfeld heraus.
Die Bahn fuhr zügig an. Er wählte immer einen Sitzplatz, welcher den Rücken in Fahrtrichtung ausrichtete. Er hatte sich mal ausgemalt, dass bei einem Frontalunfall der Tram er nicht erst noch nach vorn gebeutelt würde und sich dann vielleicht das Schienbein oder Ellbogen an irgendwelchen Kanten anstoße. Beim Rückwärtsfahren liegt das ja in der Regel schon am festen Objekt an. So fühlte er sich sicherer.
Die wüstenfarbenen monotonen Gesichter der anderen Fahrteilnehmer schauten aus den Fenstern oder unterhielten sich mit den grauen Büchern oder Skripten. Er war sehr aufgeregt, wusste er doch nicht, ob sie überhaupt zu Hause ist. Er mochte bei Überraschungen immer selbst überrascht werden. Er überließ es immer dem Schicksal, obwohl er wusste, dass er auch auf trickreiche Weise hätte sich rückversichern können, ob sie denn zu Hause sei. Er hätte sie beispielsweise bitten können, eine spezielle Fernsehsendung einzuschalten, über welche er sich demnächst mal mit ihr unterhalten wolle, er jedoch heute noch ziemlich beschäftigt sei und daher nichts mit ihr unternehmen könne. Aber für den herzlichen Überraschungseffekt konnte er solch eine Lüge nicht verkraften. Sie hätte es ihm auch übel nehmen können, zahlt sie doch keine GEZ und jegliches Einschalten eines Fernsehprogrammes kostete sie starke Nerven. Sind doch beide ständig von Gewissensbissen geplagt, die daraus resultieren, dass sie gerne gesetzestreu sein würden, jedoch nicht das Geld dafür haben, es zu bleiben. Und jeder Regelbruch in der so wunderprächtig auf Papier geregelten Gesellschaft kostet sie viel Kraft. Etwas verschweigen kostet immer viel Kraft und Nerven.
Deswegen hat er auch inzwischen so einen starken Herzschlag in der Bahn bekommen, dass man das Pulsieren seiner fleischroten Blutpumpe an den Halsschlagadern beobachten hätte können, wäre man ein aufmerksamer beobachtender Mensch gewesen. Auch erlangte sein Gesicht eine kräftige Farbe. Ein bisschen mehr vom bräunenden, aber auch zugleich schädigenden UV-Licht der Sonne, welches meist unsichtbar von den transparenten – und besonders den zugeklebten Glasscheiben der Bahn herausgefiltert wird, und er hätte in Windeseile einen interessanten Teint bekommen, der seiner Geliebten sicherlich einen Kuss abgewonnen hätte.
Jedoch entgleiste die Straßenbahn in einer sehr engen Kurve, der Bahnführer war kurz eingenickt, denn die Hitze der Sonne knallte natürlich auch in das Führerhäuschen und wenn man nicht aufpasst und regelmäßig lüftet, merkt man gar nicht, dass es gefährlich heiß in der Kabine wird. So ist der Bahnführer kurz an Hitzschlag eingenickt und die Bahn knallte in ein massives Betonhaus.
Da half auch nicht mehr, dass der junge Mann mit dem Rücken nach vorn saß. Sein Kopf bewegte sich aufgrund der Trägheit so weit weiter, dass sein Genick nach hinten mit einem lauten Krachen wegknickte. Diese Geschwindigkeit konnten seine Knochen nicht kompensieren und so knackte es kurz nach dem Knall, den die Bahn beim Aufprall erzeugte, in seinem Kopf.
Alles wurde schwarz und still. Der Staub legte sich langsam und die ersten roten Streifen hier und da an der Wand wurden sichtbar.
Exakt in der Mitte der Bahn, als hätte sie jemand mithilfe eines Lineals genau da hingelegt, lagen die wunderschönen Blumen, die wohl mit staubabweisenden Mittel besprüht worden waren und leuchteten in ihrer Farbenpracht.

Die Sitze waren genormt.

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