Y

Resignation ist kein Nihilismus; Resignation führt ihre Perspektiven bis an den Rand des Dunkels, aber sie bewahrt Haltung auch vor diesem Dunkel.
Gottfried Benn

Er hatte sich so viele nützliche Sachen in den Regalen angeschaut. Er schlenderte durch sie hindurch, als könne er nicht genug von den vielen Eindrücken bekommen. Eine bunte Tüte da, eine unauffällige Dose dort. Auch die Fleischtheke machte seinen Mund wässrig. Auch beflügelte es ab und zu seine Fantasie, wenn er sich fragte, wie denn die dort in Stücken liegenden Tiere wohl umgekommen seien. Er hat sich aber bisher noch nie getraut, an der Theke zu fragen, ob denn die Fleischstückchen alle von dem selben Tier stammen und ob man sich das Tier in gewisser Weise wieder zusammen puzzeln könne, würde man alle Teile kaufen und mit Geduld aneinanderlegen. Herz, Lunge, Niere, Rücken, Hinterschinken, Haxe und Gehirn. Es lag ja alles da. Doch die Depression in seiner Brieftasche lies dieses Experiment nicht zu und übertrug sich letztendlich auch auf seine unbeschreiblich gute Laune, sodass er mit Bedachtheit seine Handlungen ausführte und nur noch das nötigste kaufte. Eine Packung Kekse und eine kleine Flasche Cola. Ab und an kauft er auch eine Dose, den Dosensammlern zuliebe. Er spendet gerne auf diesen indirekten Weg. Seine Bekanntheiten verstehen das mitunter erst, wenn sie ihn Fragen, warum er sich dieses „eklige dick machende Zuckergesöff auch noch aus der Dose“ hole, Dosen seien doch so umweltschädlich. Sein Gemüt ist allerdings viel zu gutartig und er erklärt es ihnen mit einer Geduld, dass man Angst bekommen könne, er breche irgendwann mal aus seiner Ruhe aus; dass er extra die Dosen kaufe, weil er davon ausgehe, diese würden von den Dosen- und Flaschensammlern aufgenommen und dessen Pfand wäre ihr Lohn. „Er hat auch so einen starren Blick“, munkelt man oft über ihn. Dabei ist dies nur der Ausdruck seiner Überlegenheit gegenüber den Geschehnissen die in nächstkürzester Zeit passieren werden.
An der Kasse angekommen musste er feststellen, dass von drei Kassen nur eine mit einer feucht fröhlichen Frau besetzt war. Jedes Missgeschick kommentierte sie mit einem vermeintlich witzigen Spruch, den man sowieso irgendwie nicht verstand – weder vom Sinn, noch akustisch, denn sie murmelte und kicherte viel in ihre Feuchtigkeit hinein. Ab und zu rief sie durch das kleine Geschäft: „Kaasseee besetzen!“ mit einem gemurmelten Nachruf: „Also ich hab was gesagt!“. Doch die zwei einsamen Kassen blieben alleine und unbesetzt. Entsprechend lang wurde nun allmählich die Schlange an der Kasse und spaltete sich in einen rechten und einen Linken Flügel. Hier offenbart sich natürlich das Problem, zu klären und zu beobachten, ob denn nun die Person von links oder von rechts eher in dieser geteilten Schlange stand oder nicht. Glücklicherweise befand er sich schon an der Gabel, wo die zwei Stränge zusammen liefen.
Nun wurde die Situation aber entsprechend komplizierter. Der Chef dieses kleinen Supermarktes trat an eine Kasse und benutzte das Mikrofon. Er drückte auf diesen einen roten Knopf und sprach hinein: „Bitte Kassen besetzen.“ Kühl und demonstrativ, als wolle er der feuchten Kassiererin zeigen, dass sie auch ihr Mikrofon benutzen könne, war sein Ton. Die feuchte Kassiererin war glücklich – man konnte es an ihrem Gesicht und an ihrer noch feuchteren guten Laune erkennen – als die anderen Kassiererinnen, die etwa halb so alt wie sie waren, zum abkassieren antraten. „Sehen sie, jetzt wird es schneller gehen.“

„Junger Mann, sie denken wohl, ich stehe umsonst hier?“ sprach ihn eine absolut trockene Frau gleichen Alters wie der feuchten Kassiererin von hinten rechts an. Umsonst? Eigentlich hatte sich inzwischen die Schlange aufgelöst, er stand immer noch an derselben Stelle und war als Zweitnächster dran, abkassiert zu werden, aber diese trockene Frau muss von all dem Geschehen, dass sich die Schlange hinter dem jungen Mann auf die zwei nun neu geöffneten Kassen verteilte, nichts mitbekommen haben. Sie war vollbusig, trug eine offene, hellblaue, selbstgestrickte Bluse und und ihr Einkaufswagen war auch entsprechend eines Freitagseinkaufs voll. Ihr Mann wird sich freuen, wenn er von der harten Arbeit kommt. Aber wenn sie so weiter lebt, wird sie auch keine andere Wahl haben, als bei ihm zu bleiben.
„Junger Mann!“ sagte sie nochmal, als wolle sie etwas harrscher werden, was ihr aber nicht gelang, stupste ihn aber mit ihrem Einkaufswagen an.
Er wich stumm zur Seite, verzog keine Miene, sie ging an ihm vorbei und wollte ihre Ware auf das Band legen, musste aber feststellen, dass das Band noch voll vom Vordermann war. Es gibt sicherlich Leute, denen hier der Kragen geplatzt wäre.
Die feuchte Kassiererin legte einen roten Kugelschreiber auf die Kasse und einen blauen Kugelschreiber auf den Tisch. Niemand wusste so richtig, warum. Sie redete auch immer noch unentwegt und während an den anderen Kassen fünf mal das Piepen des Abkassier-Scanners zu hören war, piepte es bei der feucht fröhlichen Kassiererin einmal, da sie mit den Kugelschreibern und dem Suchen des Strichcodes sehr beschäftigt war. Doch die Kasse war etwas schräg und so rollte der rote Kugelschreiber immer die Kasse hinunter. Etwas reflexartig und offensichtlich von ihrer Feuchtigkeit getrieben, legte sie den blauen Stift auf die Kasse und den roten auf den Tisch. Vermutlich sollte die Farbe die physikalische Begebenheit ändern. Jedoch rollte der blaue Kugelschreiber genauso die Kasse hinunter. Und da die feuchte Kassiererin gerade etwas durch den Abkassier-Scanner zog, konnte sie den blauen Kugelschreiber nicht auffangen und so kam es, dass dieser auf den roten Kugelschreiber auf dem Tisch fiel, mitriss, und somit beide den Tisch hinunter fielen. „Ojeh, sehen sie, ich habe heute einen schlechten Tag. Hihi.“ Das fröhlich feuchte Kichern zeugte davon, dass sie bald Feierabend haben würde und einen Mann treffen werde.

Er sagte der trockenen Frau nur „Ich stand allerdings schon die ganze Zeit hier und sie waren hinter mir. Außerdem vergleichen Sie doch mal die Menge, die wir einkaufen.“, ging an die benachbarte Kasse, wo inzwischen niemand mehr anstand, und bezahlte.

Die trockene Frau wurde nie wieder in dem kleinen Supermarkt gesehen.

Dieser Beitrag wurde in 3. Person, kulturkritisches, perspektive, prämissen veröffentlicht und getaggt , . Ein Lesezeichen auf das Permalink. setzen. Kommentieren oder einen Trackback hinterlassen: Trackback-URL.

Ein Kommentar