Figurenspass

Soo, liebeLeserin. Soo, lieber Leser.
Was haben wir denn hier in meinem kleinen Mikro-Notizbuch? Mich stört ja, dass es kariert ist. Aber es ist wahnsinnig schön klein. Das nächste mal aber bitte mit weißem, unbedrucktem Papier,ja?

Nun, hier haben wir eine Frau. So eine sehr einsame Frau, die ihre schwarze Jeanshose aus dem neunzehnhundertachtundneunziger Sommerschlussverkauf des großen Kaufhauses an hat und wie es sich für ihre sechsundfünfzig Jahre gehört, bis über den Bauchnabel gezogen und ihre beige, fast weiße Leinen-Bluse mit blumigem Stickmuster akkurat in den Hosenbund reingestopft hat. Dazu ein edler Synthetik-Ledergürtel mit goldfarben ummantelter Pressaluminium-Gürtelschnalle. Man sieht, dass sie einen birnenförmigen Arsch hat. Vermutlich entsteht aber nur der Eindruck dessen, aufgrund dieser edlen Jeanshose.
Sie ist modern – Top-Modern. Ihr Mobiltelefon ragt aus ihrer Blusen-Brusttasche. Glücklicherweise hat sie ungestützte hängende Brüste, sodass die Blusenbrusttasche und das Mobiltelefon problemlos am Körper anliegen können, ohne Schräglage zu bekommen. Das wäre echt peinlich.
Das Mobiltelefon wurde stilvoll in die Brusttasche gelegt und offenbar bewusst für diese Brusttasche ausgewählt, denn man kann exakt den Mobiltelefon-LCDBildschirm erkennen. Dieses dunkle ockergrün. So wie es sich gehört für ein Mobiltelefon von neunzenhundertachtundneunzig. Es scheint aber ausgeschaltet zu sein und die ausziehbare Antenne ist auch eingefahren. Schade, ob wir die Dame mal um ihre Mobiltelefonnummer fragen?
Nun, ihr Geruch ist von einem Vanille und Erdbeer durchzogenem Duft umhüllt, der kernige Odeur ist allerdings ein Stinktier-Lockstoff-Imitat. Faszinierend. Fast so wie die HP-Sauce.

Echt interessante Sachen hier in dem Notizbüchlein – gucken wir mal weiter. Was gibt es denn noch?

Ah! Ein ganz gefährlicher Bursche. Er ist auch immer ganz einsam. Er fühlt sich immer total beobachtet und passt auf, dass all seine Handlungen und Bewegungen in einer koordinierten Weise ablaufen. Oftmals ist ihm aber peinlich, dass er beispielsweise beim Greifen eines Weinglases im Stadtcafé seinen rechten Ellbogen im falschen Winkel zum Erdboden und Tisch hält. Er fühlt sich zudem unwohl, wenn er dann das Weinglas zu seinem Mund führt und hat angst, dass er zu sehr mit seinem Gesicht dem Glas sich entgegen bewegt, als er es mit seinem Arm in Richtung seines Mundes führt. Er findet es zudem angsteinflößend, dass man ihn dabei beobachten könnte, wie er das Weinglas zu seinem Mund führt. Eigentlich würde er nicht das Glas beobachten, sondern intuitiv einfach das Glas zu seinem Mund führen, aber das geht nun nicht mehr. Wenn er nur ein paar Millimeter mit dem Glasrand neben seiner Mundöffnung landet? Vielleicht zu weit rechts oder vielleicht zu weit links? Oder sogar zu weit oben oder drunter? Das kann ja alles passieren! Wenn er auch noch so eine leichte Fehlleistung korrigieren müsste – schlimmstenfalls auch noch mehrfach – wie sollte er das verkraften können? Die Leute lachten ihn dann bestimmt aus. Und immer wenn er sich umschauen würde, würden alle so tun, als ob sie ihn nicht beachten würden. Die Leute tun auch meistens so, als ob sie sich vertieft mit ihren Freunden oder Partnern im Café unterhalten würden, wenn er sich umschaut, denkt er; das verunsichert ihn immer am stärksten. Darum gibt er sich immer mit größter Anspannung und Konzentration die Mühe, beispielsweise das Weinglas korrekt und fehlerfrei zu seinem Mund zu führen.
Er erzählt immer allen von seinem Lieblingswitz, von dem Autofahrer auf der Autobahn, der im Verkehrsfunk hört, dass auf der Autobahn, auf der er fährt, ihm ein Falschfahrer entgegen kommen würde, es ihm aber irgendwie nur und ausschließlich Falschfahrer entgegenkommen würden. Wenn dann die Leute lachen, denen er das erzählt, sagt er immer, dass das gar nicht witzig sei, wenn man ständig gesagt bekommt, dass man gegen den Strom schwimmt. Dann verschlucken sich die lachenden Leute meistens. Er ist das aber gewohnt.

Muss ganz schön groß sein, mein Notizbuch. Hier passt echt viel rein. Aber es ist langsam vollgeschrieben. Ich sollte es mal in die Reinigung bringen, damit die Seiten gelöscht werden und wieder neue Figuren hinein können.
Hier habe ich aber noch eine wundervolle Schönheit. Ja, die wird euch auch gefallen. Vorher waren das ja alles echt sonderbare Gestalten. Aber diese hier, die ist wunderschön:

Sie ist so hübsch, dass sich ganz unauffällig eine Schar Männer um sie gesellt hat. Aber ganz unauffällig. Sie hat sich im großen unteren Bahnabteil des Doppelstockzuges hingesetzt, wo in der Regel die Fahrradfahrer sich mit ihren Drahteseln niederlassen. Sie hat sich sehr mittig hingesetzt, so hat sie einen guten Abstand zu den Türen aus dem Zug – aber immer noch alles im Blick. Ein Junge mit Buch sitzt ihr gegenüber. Schräg gegenüber setzt sich gerade ein Fahrradfahrer mit seinem Drahtesel hin. Rechts von ihr hat sich ein Paar mit Kinderwagen und Balg niedergelassen. Die drei Jungs an der Zugtür rechts gegenüber von ihr quatschen miteinander und jeder von ihnen lunscht immer mal unauffällig zu ihr – der hübschen – hinüber. Sie scheint zu träumen, vermutlich sinniert sie aber gerade über diese Situation und genießt es. Es sind 10 Minuten, die sie von allen Seiten Aufmerksamkeit geschenkt bekommt. Das muss man genießen. Da hört sie keine Musik, da liest sie nichts, da sitzt sie nur da. Die drei Jungs haben sich aufgeteilt, der mit dem Buch kann auch nicht mehr lesen. Eigentlich sind alle ganz unauffällig, wenn sie – die Wunderhübsche – sich jedoch umschaut, dann hat jeder der Jungs ein Lächeln für sie übrig. Jeder ein anderes. Bei einem wird das Grinsen nur mit dem rechten Mundwinkel artikuliert und erhält somit eine dieser typisch coolen Note. Ein anderer, mit kurzen Haaren hat ein sehr nettes Lächeln für sie übrig, das entlockt sogar ihr ein Grinsen. Der nächste versucht, so neutral wie möglich zu gucken, folgt aber ihren Blicken, das verschreckt sie etwas.
Ihre reinen braunen Augen haben dieselbe Farbe wie ihre Haare. Kein Pigment in ihren Augen hat ein anderen Braunton oder ist gar grau, wie man es durchaus aus dem Spiegelbild kennt. Ihre Augen sind edelstes Lehm-Braun. Sie trägt weiße Ballerinas, mit runder Schuhspitze und einem weißen kleinen Schleifchen in der Höhe des Gelenks der großen Zehe am inneren Schühchensaum. Ihre gleichmäßig gebräunten Beine setzen sich perfekt von diesen Schuhen ab. Sie ist nicht sehr groß gewachsen. Sie hat auch eine Stupsnase, mit einer kugligen Nasenspitze. Im Gegensatz dazu hat sie dünne, unauffällige Lippen an ihrem Festen Mund, die symbolisieren, dass sie durchaus sehr redegewand sein könnte und nicht zu unterschätzen sei. Sie hat kaum Grübchen, wenn sie lächelt, ihre Gesichtshaut ist perfekt straff und der Teint unwiderstehlich karamelfarben. Sie stört es, dass sie wie ein kleines Mädchen behandelt werde, genießt es aber gleichzeitig und entfaltet sich so in ihrem Selbstbewusstsein.
Ihre Hände sehen penibel gepflegt aus, als ob sie viel Wert auf Maniküre legt. Sie trägt keinen Ring oder irgendeine Form von Armband oder Uhr. Ihre Fingernägel sind auch nur mit mattem Klarlack überstrichen, was kaum auffällt. Ihre Haut weist keine Irritationen auf. Mit ihren Fingern spielt sie an den braunen Lederbändchen ihrer riesengroßen und mehrtäschigen Handtasche herum. Sie lässt sie gerne durch ihre Fingerzwischenräume gleiten. Sie ist sehr routiniert darin. Offenbar lenkt sie sich damit von unliebsamen Gedanken ab.
Sie trägt eine hellblaue Jeanshose im schlichten fünfhunderteinser Stil. Sie hat einen sehr grobmaschigen Wolle-Longsleeve in baumwollfarbenem weiß an, wo ihr schwarzer BH um ihre Brüste durchschimmert. Unübersehbar. Sie kann diese Auswahl nicht unbewusst gewählt haben. Nicht die übergroße braune Tasche mit den vielen Außentäschchen ist ihr Eyecatcher, es ist ihr dezent präsentierter Busen. Ihre Bewegung beim Hinsetzen war bewusst so gewählt, dass die große Tasche nichts davon verdeckt und auch die drei Jungs an der Tür schräg gegenüber von ihr alles sehen. Nun liegt die Tasche auf ihrem Schoß, es scheint nichts darin zu sein. Vielleicht nur ein paar Papiere und das Mobiltelefon. Die braune Lederjacke rundet ihren perfekten Stil in der Kleidungs- und Utensilienwahl ab.
Alle Herren und Jungs lassen sie – die Wunderhübsche – an sich vorbeigehen, als sie aussteigt und treten dann auch aus dem Zug hinaus, gehen aber dann ihrer eigenen Wege.

Ein zauberhaftes Notizbüchlein habe ich also. Ob das so darin steht? Ob darin überhaupt etwas steht?

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