Oma

„Wenn du nicht aufisst, wird das Wetter schlecht.“ Hat sie immer gesagt, meine Oma; gesagt hat sie es. Und die hatte ja so recht. Recht hatte sie. Es war ja auch meine Oma. Denn es wurde tatsächlich das Wetter schlecht, wenn ich nicht aufgegessen habe, nicht wahr? Ja, so wahr. Also aß ich immer auf, damit das Wetter gut wird. Oma hatte es ja gesagt; gesagt hatte sie es ja. Aber eigentlich hatte sie ja auch nur gesagt, dass das Wetter schlecht werden würde, wenn ich nicht aufäße. Dass das Wetter gut werden würde, wenn ich aufäße, davon hatte sie ja gar nichts gesagt. Demnach wäre das auch eine nicht so gute Schlussfolgerung, womit auch nicht gesagt wäre, dies sei eine schlechte Schlussfolgerung, dass das Wetter gut werden würde, wenn man aufisst. Trotz alledem habe ich natürlich weiterhin ordentlich aufgegessen, da ich das schlechte Wetter vermeiden wollte. Wenn es doch mal regnete, obwohl ich meines Erachtens aufgegessen hatte, sagte mir meine Oma: „Dann hast du heute irgendetwas genascht. Genascht hast du bestimmt. Wenn du naschst, isst du etwas, nur eben nicht auf. Man nascht nicht, denn dann wird das Wetter schlecht, da man nicht aufisst!“ Meine Oma war eine liebe Oma. Sie war immer sehr lieb zu mir. Aber ich bekam trotzdem nie meine ausreichende Libidobefriedigung. Da kann mir meine Oma noch so oft den Rücken in der Nacht im Ehebett zwischen Opa gekrault haben. Sie konnte nicht gut und ausreichend genug kraulen, mir hat das nie gereicht, ich wollte immer mehr, mehr wollte ich und doch habe ich es nicht bekommen. Meist ist sie dabei eingeschlafen. Wie ich eingeschlafen bin, weiß ich nicht mehr, aber es war immer erst nachdem meine Oma eingeschlafen war und ich noch einige Gedanken in Gedanken verdacht gewesen bin. Mein Opa hat mir aber in der Wanne, in der man sich hinknien musste, da der Duschvorhang fehlte beziehungsweise nicht benötigt wurde, da man sich ja nur hinknien brauchte, und in die auch das Abwasser der Waschmaschine hinein floss, wenn man sich nicht gerade in der Wanne hinkniete, um zu duschen, einen tollen Rückenschwamm gezeigt, welchen man zum automotorischen Rückenkraulen als Unterstützung nutzen konnte. Ich bevorzugte allerdings doch lieber die liebevolle Faustlappen-Methode meiner Oma. Ihre Faustlappen-Methode war die beste, ich wollte immer mehr. Sie konnte die Faustlappen-Methode besser als ihr nicht so gutes und weniger ausreichendes nächtliches Kraulen im Bett zwischen Opa in der Nacht, wo sie meist eher einschlief als ich, welcher noch einige Gedanken dachte, bevor er einschlief, auch wenn ich es nicht mehr so genau weiß, wann und ob.
„Wenn du nichts in die Reihe bekommst, werde einfach Pornostar. Die verdienen gut.“, sagte sie mir, als sie mir in der Wanne, wo auch das Abwasser der Waschmaschine hineinläuft, wenn man nicht gerade in der Wanne kniet, und von der Faustlappen-Methode den Rücken gerubbelt bekommt. Ja der Rücken wird bei der Faustlappen-Methode meiner Oma ordentlich durchgerubbelt, das ist besser als ihr nicht so gutes Rücken kraulen, wo sie meist einschläft und ich dann noch wach einige Gedanken denke, bevor ich ihr dem Schlafe folge.
Aber meine Libido wurde immer noch nicht ausreichend befriedigt, mein Rücken hätte Wund gerieben werden können von der Faustlappen-Methode meiner Oma, und ich wäre nicht befriedigt genug gewesen. Meine Oma hätte mir aber auch, abgesehen davon, dass die Faustlappen-Methode echt die beste Methode ist, die man einem Kind am Rücken anstelle nicht so guten Kraulens bieten kann, niemals den Rücken wund gerubbelt. Dafür war meine Oma viel zu lieb. Sie war eine der liebsten Omas, die ich je hatte. Sie war gleich auf mit meiner anderen Oma. Ja, mehr Omas hatte ich auch nicht. Aber sie war mit der anderen Oma die aller beste Oma aller Zeiten. Sie konnte auch Mehlsuppe Kochen. Im Mehlsuppe kochen war sie eine derjenigen Omas, die es am besten konnte. Sie konnte am besten Mehlsuppe kochen. Im Mehlsuppe kochen, war sie von meinen ganzen Omas die beste. Und ich hatte ganze zwei Omas. Meine beiden Omas können gut Mehlsuppe kochen, aber die eine Oma war die beste Oma im Mehlsuppe kochen. „Denk an das Wetter.“ Manchmal war mir schon ganz schlecht. „Dann teil es auf, du hast Zeit.“ Es war aber auch immer eine leckere Mehlsuppe. Natürlich mit Klümpchen, viel Zucker und Butter. Markenbutter. Frisch geschmolzen, manchmal extra Butter mit kandiertem Zucker. Und Mehlklümpchen. Klumpen waren das.
Meine Oma war schon eine liebe Oma. Auch wenn sie mir nicht so gut den Rücken kraulen konnte, wenn ich zwischen ihr und Opa im Doppelbett lag und viel nachdachte, als sie eingeschlafen war und mir ihre gute Nacht-Geschichte nicht mehr fertig erzählen konnte und den Rücken kraulen konnte, wie sie mit ihrer Faustlappen-Methode den Rücken rubbeln konnte.
Eines Tages aber, an einem Tag, wo ich wieder die absolute Befriedigungslosigkeit spürte. Es war so ein Tag vor der eigentlichen Bescherung zu Weihnachten. Da war ich so unbefriedigt aufgrund der aufkommenden Anspannung, welche Geschenke ich bekommen würde. Da ging ich in die Küche und nahm mir den Schrankschlüssel zu dem großen Wandschrank, der neben dem Doppelbett im Schlafzimmer stand, in welchem ich immer zwischen Oma und Opa gekrault wurde, wenn ich nicht in der Wanne den Rücken gerubbelt bekam, wo das Abwasser der Waschmaschine ansonsten hinein floss, oder Mehlsuppe aß, und ging – lieber Leser, liebe Leserin, du wirst es ahnen, ahnen wirst du es und ganz gespannt sein, ob es stimmt, was du jetzt gerade ahnst, aber noch nicht weißt, weil es noch nicht verraten wurde – zu dem Schrank hin und schloss ihn auf.

Darin war eine Kabelferngesteuerte rote Feuerwehr mit rotem Hupen-Knopf. Miep! Miiiep!

Schnell schloss ich den Schrank wieder zu. Schnell brachte ich den Schlüssel zurück in die Küche, wo sonst ich nur war, wenn ich andere Sachen machte, ging ins Bad, pinkelte. Schaute ins Schlafzimmer, ob alle Indizien unsichtbar seien. Ich ging wieder ins Bad – aufs Klo kacken. Ich musste nicht wirklich kacken. Ich wollte schnell weg hier. Schnell bloß. Ich hielt es nicht mehr aus. Vor mir im Bad auf dem Klo stand der Tiefkühlschrank, da war dieses schwarzwälder Kirschschoko-Eis drin. Ich weiß es. Das gab es immer, wenn ich da war. Aber ich wollte jetzt keins mehr, ich wollte schnell weg. Ich will auch keine tolle kabelgesteuerte Feuerwehr mehr. Nein.

„Opa, ich will was löten.“ Ich ging schnell in die kleine Werkstattkammer, die eine wurde, wenn man schnell alle Schuhe ausräumte. „Nein, ich will doch nicht löten.“ Wir räumten alle Schuhe wieder hinein. „Mutti. Komm mal her.“
„Mutti. Ich habe in den Schrank geguckt.“ Meine liebe Mutter wusste nicht wovon ich sprach und dachte, ich meinte den Lötutensilienschrank. „Ich habe die Feuerwehr gesehen und ich möchte kein Weihnachten mehr feiern.“

Aber die schlimmsten Weihnachten sind nichts gegen das Hinscheiden der besten Oma.

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